Israel in Egypt: Konzert/Projektion/Installation—Heimat? Auf der Suche
Ein Beitrag zum Wissenschaftsjahr Freiheit, in Kooperation zwischen CATS Worldmaking in Global Perspective—A Dialogue with China, Heidelberger Akademie der Wissenschaften & Junge Kantorei Frankfurt/Main.
10. Mai |
Wartburgkirche Frankfurt |
11. Mai |
Stadthalle Hofheim |
12. Mai |
Neue Aula der Universität, Heidelberg |
Die Vorstellungen beginnen jeweils um 18:00 Uhr
- Junge Kantorei, Frankfurt / Main
- FENG Chi-Han, Multimediakünstlerin
- Jonathan Hofmann, Künstlerische Leitung
Der brutale Kampf um Heimat und damit verbunden, territoriale Besitzansprüche, die dieser Tage so viele Menschen an unterschiedlichsten Orten dieser Welt erleben, lassen sich in einer großen Erzählung bereits in den ersten Kapiteln der Bibel wiederfinden, die vielseitig in Musik und Bild aufgegriffen und weiterverarbeitet wird: Den im ägyptischen Exil unterdrückten Israeliten gelingt – mit Gottes (brutaler) Hilfe – der Aufbruch in die Freiheit. Händels Israel in Egypt ist eine gewaltvolle Geschichte der immer neu wiederholten Suche nach Heimat. Die bildgewaltigen Texte sollen in dieser Aufführung musikalisch erlebbar und spürbar werden — im Dialog mit Bildern ganz anderer Heimatsuchender, hier der taiwanischen Multimedia-Künstlerin FENG Chi-Han, die die Geschichte in die Gegenwart holt und erfahrbar macht.
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The sons of Israel do mourn,
and they are in bitterness;
all the people sigh
and hang down their heads to the ground.
Israel in Egypt, Teil I, 2
He rebuked the Red Sea, and it was dried up.
He led them through the deep as through a wilderness.
Psalm 106,9; Israel in Egypt, Teil II, 12
But the waters overwhelmed their enemies,
there was not one of them left.
Psalm 106,11; Israel in Egypt, Teil II, 12
The depths have covered them,
They sank into the bottom as a stone.
Exodus 15,5; Israel in Egypt, Teil III, 18
Geschichten von Heimatsuchenden, von denen die Heimat finden und von den Ängsten, die beides auslöst, den Kämpfen, die es nötig zu machen scheint, bestimmen unsere Reflexionen in diesem Konzert. Dabei können wir keine einfachen Antworten geben — Ist Gewalt wie die eines Gottes, der seine verfolgten Anhänger rettet, auf dass sie wieder Heimat finden, gerechtfertigt? Es sind Glaubensbekenntnisse: an den einen Gott, die eine Politik, den einen Lebensstil, die bestimmte Be- und Entheimatungsprozesse und die sich daraus oft ergebenden Gewaltakte bedingen — solche gibt es überall auf der Welt, nicht nur, aber auch in der Volksrepublik China, wo Uighuren, Hongkonger, Taiwanesen, Rechtsabweichler, Katholiken, Avantgarde-Künstler und Nicht-Heterosexuelle gleichermaßen ausgegrenzt, kriminalisiert und entheimatet oder mit gleichschalterischen Parolen und militärischen Mitteln beheimatet werden.
Im Kern sind die Geschichten, die diese Schicksale erzählen, auch in Israel in Egypt schon zu entdecken: Hier beobachten wir eine Gruppe von Menschen, die, weil sie Hunger leidet, die Heimat verlassen muss. Die Menschen sind verbunden durch den einen gemeinsamen Glauben. Auf der Suche nach einer neuen Heimat finden die Flüchtigen Hilfe im Nachbarland. Auch wenn dort ein anderer Glaube herrscht, sind sie zunächst in der Lage, sich dort eine neue Heimat aufzubauen. Durch einen Regierungswechsel werden sie nun selbst zu einer politisch unterdrückten Gruppe — nicht alle wollen in der neuen Heimat ihrem (fremden) Glauben folgen. Sie erleiden, ob dieses Glaubens, Diskriminierung, Gewalt, werden versklavt. Ihr Glaube wird aber nicht schwächer dadurch, im Gegenteil: Als sie sich erheben, ist es eben der Glaube an die Macht ihres Gottes, der ihnen hilft. Angeführt von Moses, können sie sich befreien, doch Gott rächt sich grausam an denen, die anders denken — „There was not one of them left ... they sank into the bottom as a stone“ (Teil II, 12 und Teil III, 18; Psalm 106,11 und Exodus 15,5). Und während sie so die Hoffnung wiederfinden, die sie trägt, auf ihrer beschwerlichen Reise durch die Wüste, während sie im Glauben an Gott eine für sie schlüssige Narration, unter der all ihre furchtbaren Erfahrungen gebündelt werden können, finden, müssen wir uns fragen, ob diese Art des einen einzigen Glaubens und der damit verbundenen einseitigen Narration, die blutige Spuren hinterlässt und auf der anderen Seite Dunkelheit und Tod verbreitet, noch tragen kann in einer Welt, die vielleicht nichts mehr braucht als Frieden und Verständnis: „He sent thick darkness over all the land, even darkness which might be felt ... He smote all the first born of Egypt” (Teil II, 8; Exodus 10,21; Psalm 105,36)?
Israel in Egypt, die Geschichte der Israeliten in Ägypten ist eine gewaltvolle Geschichte der immer neu wiederholten Suche nach Heimat. Basierend auf der Tora (Fünf Bücher Mose) und dem Alten Testament (Mose & Exodus), erzählt das Oratorium eine Geschichte von zweimaliger Flucht und Rettung — vor dem Hunger und vor der Sklaverei. Händel vertont die Geschichte in drei Akten. Auffallend ist der große Choranteil: Wichtigster Protagonist der Geschichte ist das immer wieder neu suchende und von Gott ausgewählte Volk Israel, keine Einzelperson. Die bildgewaltigen Texte sollen in dieser Aufführung musikalisch erlebbar und spürbar werden — im Dialog mit Bildern ganz anderer Heimatsuchender, hier einer Künstlerin aus Taiwan. Wir haben es mit einer figuralen Setzung zu tun, in der das Publikum noch einfühlender, bewusster der Geschichte folgen und sie auf andere Situationen übertragen können soll.
Synopsis: Eine Hungersnot lässt die Israeliten fliehen aus dem gelobten Land (Kanaa) nach Ägypten, wo sie Hilfe suchen und finden — Ägypten wird zur zweiten Heimat, wo Josef gemeinsam mit dem Pharao regiert und also den Israelis Geborgenheit bringt (Teil 1 des Oratoriums: „He deliver’d the poor that cried, the fatherless, and him that had none to help him. Kindness, meekness and comfort were in his tongue“ (Teil I, 4 Lamentation of the Israelites for the Death of Joseph; Hiob 29,12). Mit im Gepäck haben sie die Idee eines einzigen Gottes. Dass dieser Gott den Israeliten ein Land versprochen hat, macht den anderen, Alteingesessenen, in der neuen Heimat der Israeliten, den Ägyptern, auch Angst. Und so werden sie nach dem Tode Josefs unterdrückt, versklavt: Erst Moses gelingt es, sein Volk aus der Knebelung zu führen — Gott befreit es mit seiner Hilfe: Durch Wunder und furchtbare Plagen, die Gott den Ägyptern auferlegt, welche voller Angst und Schrecken reagieren, ist den Israeliten — nun erneut auf der Flucht — der Auszug aus Ägypten möglich (Teil 2 des Oratoriums: „Egypt was glad when they departed, for the fear of them fell upon them.“ Teil II, 11). Noch viele Jahre wird das Volk Gottes dann durch die Wüste ziehen und erneut nach Heimat suchen, bevor es auf den Berg Sinai gelangen wird, wo ihm Gott die Tora und die Heimkehr offenbart. Freude und Dank für die Möglichkeit und die Gewissheit, eine neue Heimat nicht nur suchen, sondern diese auch finden zu dürfen, ist Inhalt des 3. Teils des Oratoriums: „The Lord is my strength and my song, he is become my salvation… He is my God, and I will prepare him an habitation“, Teil III, 15–16).
Szene: Das Orchester ist fester Bestandteil im Raum, alle anderen ‘Figuren‘ (Chor, Solist:innen, Publikum, bildende Kunst) bewegen sich, der Architektur des Oratoriums folgend, um dieses herum und verändern dabei jeweils ihre Position/Perspektive — auf der Suche. In der Gesamtschau ergibt sich eine Art zeitliche und räumliche Landkarte zum Thema Heimat, Heimatverlust, migrierender Bewegung, Flucht, Exil und Fremdheitserfahrung.
Der Dialog mit dem Werk einer bildenden Multi-Media Künstlerin aus Taiwan wird dabei den Raum, in dem wir agieren, mit Erfahrungen füllen, die konkret und zeitgenössisch sind, und die so die im Oratorium erzählte Geschichte der lsraeliten aufgreift, ergänzt, überschreibt, aktualisiert, mit Blick auf zeitgenössische Phänomene von Heimat, Heimatverlust und Fremdheitserfahrung. Die Summe aller gebündelten Erfahrungen und Eindrücke, die gezeigt und verhandelt werden, wird zu einem Geflecht, das zumindest ansatzweise abbilden kann, wie komplex die Suche nach Heimat ist und dass Heimat nicht zwangsläufig nur etwas mit Orten, sondern auch mit Menschen oder dem eigenen lch und seiner Beziehung zu einer bestimmten Umgebung zu tun haben kann. Es entsteht eine inhaltliche Dramaturgie, die darauf basiert, Geschichten zu erzählen und zu erleben und den Raum in seiner Gesamtheit mit Chor, Orchester und bildender Kunst zu einem Ort des suchenden Erfahrens — Erlebens — Verstehens — Handelns — und Fragens zu machen. Omnisensorisch und performativ wird der Aufführungsraum selbst zu einer Landkarte des Suchens von Heimat, in der die Geschichte auch losgelöst vom konkreten christlichen Kontext erfahrbar werden kann. Das Publikum wird dabei in der Begegnung mit und Erfahrung von Musik und Bild in Raum und Zeit als Figur in der Geschichte mitgedacht.
Raum: Das Orchester ist als nicht beweglicher Erzähler in der Mitte des Raumes verortet. Es steht dort, monolithisch fast, wie eine Gruppe, die Heimat gefunden hat und deren Definition von Heimat sich dadurch mit dem lst-Zustand einer Heimatdefinition im Raum deckt: Heimat ist da, wo ich bin, wo ich bleibe.
Um das Orchester gruppiert sind das Publikum und die beiden Chöre. Die Chöre erzählen die gewaltige und gewaltsame Geschichte von der mehrfachen Ent- und Be-Heimatung Israels — seiner immer wieder neuen Suche nach Heimat. Publikum und Chor gleichen damit vier (Möglichkeits-)Räumen oder Landabschnitten, Heimatangeboten, die um das statische Heimat-Orchester positioniert sind. Zwischen diesen vier Raumangeboten gibt es Lücken, räumliche und inhaltliche Leerstellen.
Zeit: Händels Israel in Egypt besteht aus drei die jeweilige Vergangenheit oder Zukunft reflektierenden Akten. Nach jedem Akt gibt es eine Pause. Daraus ergibt sich folgende dramaturgische Bauart von fünf Zeitabschnitten im Konzert: Erster Akt / Zwischen Akt Eins und Akt Zwei / Zweiter Akt / Zwischen Akt Zwei und Akt Drei / Dritter Akt. Die jeweiligen Dazwischen sind narrative Stränge, die das Suchmoment verdeutlichen sollen. So ergeben sich zwei zu den Akten hinzukommende Zeitabschnitte in der Erzählung: Dramaturgisch wird so die doppelte Such- und Migrationsbewegung abgebildet, die sich auf Flucht vor dem Hunger und drohende Exilierung gründet. Das Orchester bleibt sesshaft, doch Publikum und Chor migrieren, sie müssen sich — zwangsläufig — immer wieder einen neuen Ort, eine neue Bleibe, eine neue Heimat suchen. Es ist nicht möglich, an den altbekannten Ort, dort wo man vorher war — Heimat?! — zurückzukehren, weil es diesen so nicht mehr gibt. Nur das Orchester bleibt. Publikum und die beiden Chöre andererseits erleben so, von diesen Leerstellen zu ständiger Bewegung getrieben, immer wieder neue Perspektiven auf das Suchen und die Erzählungen von Heimat, Flucht und Migration — und die damit verbundene Gewalt, auf allen Seiten. Am Ende dieses letzten Aktes führen wir deswegen in unserer Neukonzeption zum Anfang zurück — dem Trauergesang der Israeliten, der so zum Trauergesang für das zerstörte Ägypten wird — wir beenden das Stück, unaufgelöst, auf der Dominante, und rufen damit jede:n dazu auf, den scheinbar undurchbrechbaren Zyklus von Heimat-Kämpfen neu zu überdenken.