Vanitas21: Present - Vergänglichkeit und Zuversicht in katastrophischen Zeiten
Monteverdi—Improvisation—Installation
Ein Projekt im Rahmen der Reihe Neues Hören der Jungen Kantorei, Frankfurt.
Künstlerische Leitung: Jonathan Hofmann;
Installation: Johann Diel und Paula Mierzowsky
Symposiums-Konzeption und Moderation: Silke Leopold & Barbara Mittler
VERANSTALTUNGEN
Konzerttermine
Sonntag, 19. September 2021 – 17.00 und 19.30 UhrWartburgkirche, Hartmann-Ibach-Straße 108, 60389 Frankfurt am Main–Nordend
Samstag, 25. September 2021 – 17.00 und 19.30 Uhr
Portland Forum, Festhallenstraße 1, 69181 Leimen
Symposium
Am 3. Juli fand im Rahmen des Projekts Vanitas21 in Zusammenarbeit mit der Jungen Kantorei in der Wartburgkirche Frankfurt ein Symposium zum Thema "Vanitas 1630 - 2021—Vergänglichkeit und Zuversicht in katastrophischen Zeiten" statt.
Das Symposium war der Auftakt zu einer Konzertinstallation Vanitas21. The Present. Monteverdi - Installation - Improvisation, die in Frankfurt (Wartburgkirche) und Heidelberg (PortlandForum) am 19. bzw. am 25. September stattfindet.
Das Projekt steht in der Reihe Neues Hören der Jungen Kantorei und wird, wie auch die vorangegangenen Konzerte aus dieser Reihe, in seiner Entstehung, Konzeption, musik- und ideengeschichtlichen Einordnung von den Professorinnen Silke Leopold und Barbara Mittler (von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften und dem Thematic Research Network Umwelten-Umbrüche-Umdenken) begleitet. Die Vorträge beim Symposium wurden durch eine Podiumsdiskussion vertieft, an der die Regisseure und der Künstlerische Leiter der Jungen Kantorei teilnahmen.
Programm
10.30–12:45 Uhr:
Silke Leopold (Heidelberg, Musikwissenschaft):
Wie die Zeit vergeht: Musik über die Vergänglichkeit im 17. Jahrhundert
Robert C. Seidel (Frankfurt am Main, Literaturwissenschaft):
„nur Eitelkeit auff Erden“? – Deutsche Barocklyrik im Spannungsfeld von lutherischer Orthodoxie und Neostoizismus
Henry Keazor (Heidelberg, Kunstgeschichte):
„Der Augenblick könnte vom Barock lernen“: Vanitas in der Kunst von Barock und Neobarock
Moderation: Barbara Mittler
13.30–14.30 Uhr:
"Vanitas21 – Das Geschenk der Gegenwart"
Roundtable mit Johann Diel, Paula Mierzowsky (Regie Konzert-Installation) und Jonathan Hofmann (Künstlerische Leitung)
Es gelten die aktuellen Hygienemaßnahmen (Teilnahme nur vollständig geimpft, negativ getestet oder nachweislich genesen; Maskenpflicht während des Aufenthalts im Raum).
SYMPOSIUM: DAS THEMA
Vanitas 21 (von Silke Leopold)
Die Erde ist der Mittelpunkt des Universums, und der Mensch die Krone der Schöpfung: Diese scheinbar unumstößlichen, als gottgegeben verstandenen Gewissheiten wurden zu Beginn des 17. Jahrhunderts durch die Wissenschaften erschüttert. Unter dem neu erfundenen Mikroskop wurden winzige Wesen sichtbar, die der Mensch mit bloßem Auge nicht sehen konnte, und das ebenfalls neu entwickelte Fernrohr öffnete den Blick auf die unendlichen Welten der Sterne, unter denen die Erde nur einer von vielen war. Es waren Erkenntnisse, die den Zeitgenossen den Boden unter den Füßen wegzogen; sie mussten sich buchstäblich neu verorten. Und damit nicht genug: Die furchtbare Pestepidemie der Jahre 1630/31 in ltalien, der etwa ein Drittel der Bevölkerung zum Opfer fiel, tat ein Übriges, den Menschen den Glauben an die Zukunft schwer zu machen. Kein Wunder also, dass in dieser Zeit der uralte, im Buch Kohelet des Alten Testaments zum ersten Mal formulierte Gedanke von der Vanitas, der Eitelkeit allen irdischen Tuns, Konjunktur hatte. "Du siehst, wohin du siehst, nur Eitelkeit auf Erden", dichtete Andreas Gryphius 1637 vor dem Horizont der Erfahrungen mit den Verheerungen des Dreißigjährigen Krieges. In ltalien hatte schon Francesco Petrarca, der die andere große Pestepidemie Mitte des 14. Jahrhunderts miterlebt hatte, der ldee der Vanitas in seinem "Triumph des Todes" genannten Gedicht ein literarisches Denkmal gesetzt: "O ihr Blinden, was nutzt all eure Mühe", und: "Elend ist, wer Hoffnung in irdisches Ding setzt.”
Dass Claudio Monteverdi dieses Gedicht im Jahre 1641 zum Eröffnungsstuck seiner geistlichen Sammlung Selva morale e spirituale (moralischer und spiritueller Wald/Dickicht) bestimmte, darf deshalb nicht überraschen. Er selbst hatte die Pest in Venedig miterlebt, hatte Freunde und Kollegen verloren. Aber die Epidemie war vorübergegangen, ihm selbst hatte, obwohl mit seinen mehr als sechzig Jahren zur Risikogruppe gehörend, die Pest nichts anhaben können, und es war ihm vergönnt gewesen, die Zukunft nach dem Tal der Verzweiflung und des Sterbens mitgestalten zu können. In der Selva findet sich etwa ein großes Gloria, das er zur Weihe der neuen Kirche S. Maria della Salute komponierte - ein prächtiges, virtuoses Stuck voller Lebensfreude und Zuversicht. Und es finden sich zu Beginn der Sammlung einige italienischsprachige Madrigale, die über die Vanitas reflektieren. Mit seiner Musik setzte Monteverdi also immer wieder ein Zeichen gegen die Hoffnungslosigkeit: Denn nicht das Sterben steht im Zentrum seiner musikalischen Erfindung, sondern das Leben in all seiner Schönheit und Vielfalt. Auch die Rose, die am Abend verblüht, ist am Tage schön, und auch wenn wir morgen sterben müssen, dürfen wir heute ausgelassen lachen. Vanitas, so Monteverdis Botschaft, heißt nicht, in Trübsal zu versinken, sondern, im Gegenteil, das irdische Dasein, so kurz und flüchtig es auch ist, in all seiner Vitalität zu feiern, ein Geschenk der Gegenwart.
KONZERT: DIE INSZENIERUNG
Das Geschenk der Gegenwart (von Johann Diel und Paula Mierzowsky)
Wir hatten uns eingerichtet. Wir hatten alles im Griff. Wir konnten alles haben und erreichen. Wir mussten uns nur ausreichend anstrengen. Es gab keine Grenzen. Dann kam das Virus. Plötzlich waren wir ohnmächtig. ...
Die plötzliche und unerwartete Erfahrung der eigenen Endlichkeit, Nichtigkeit und Ohnmacht gegenüber der Macht einer mikroskopisch kleinen Lebensform, hat uns Demut gelehrt. Wir müssen uns als Individuen ebenso wie als Gesellschaft neu verorten. Was bleibt von der uns bekannten Welt? Was bleibt von uns als Mensch im Einzelnen und von uns als Menschheit im Ganzen?
Auf der zentral angesiedelten Bühnenlandschaft, um die herum das Publikum platziert werden soll, begegnen sich alte und neue Musik, echte, physisch anwesende Menschen und Projektionen ihrer selbst. Es gibt mehrere Türrahmen, die durchschritten werden können. Sie sind im gesamten Raum, auch zwischen den Stuhlreihen, platziert und werden mit langen semitransparenten Stoffen verhängt. Diese dienen als Projektionsfläche und Möglichkeit für Schattenspiel. Sie werden von den Sängerinnen und Sängern im Stückverlauf abgenommen, durchschritten, umgehängt und auch als Kostüm verwendet. Durch diese Bühnenelemente entsteht ein loser, assoziativer Wald (SELVA), in dem sich vergangene Bilder mit gegenwärtigen vermischen, Körper mit ihren Schatten, Stimmen ihren Körper verlieren und Körper ihre Stimmen. Menschen werden winzig vor der Größe des Weltalls und wachsen zu gigantischer unüberschaubarer Größe an neben Mikroorganismen. Und doch sind sie es, die uns derzeit beherrschen. Gerade im Versuch, sich zwischen Klein und Groß, zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen Ewigkeit und Vergänglichkeit zu verorten wird die Wichtigkeit der Gegenwart deutlich.
Mit einer Mischung aus vorproduzierten Videos und Live-Kamera-Aufnahmen generieren wir auf verschiedenen Projektionsflächen einen sich ewig sanft verwandelnden Sog aus Bildern. Sängerinnen und Sängern begegnen ihren stummen Schatten, das Publikum, das sich gerade noch selbst auf den Bildern der Live-Kamera gesehen hat, wird durchsichtig und verschwindet.
Welche Spuren haben die massiven Einschränkungen der leiblichen Ko-Präsenz in unserer Gesellschaft, unserer Kommunikation und und Interaktion hinterlassen? Die Abwesenheit des Empfängers lässt auch den Sender verschwinden. Die Stimme verschwindet oder wird körperlos. Wie kann sich das Subjekt seiner selbst und seiner Verankerung in der Gemeinschaft noch sicher sein, wenn der Abgleich mit der Umwelt nur noch über Bildschirme funktioniert? Über eben jene Bildschirme, über die wir sonst in fiktive Welten abtauchen.
Dem Gefühl der Auflösung wollen wir eine Zeremonie der gemeinsamen Präsenz, ein Fest der Gegenwart entgegensetzen. Unter Wahrung von geltenden Abstands- und Hygieneregeln wollen wir das Publikum einladen, gemeinsam mit dem Chor der Jungen Kantorei, dem VokalSextett und dem InstrumentalTrio eine intensive Erfahrung des Hier und Jetzt in der Musik, in den Bildwelten und vor allem in der gemeinschaftskonstituierenden Konzertsituation zu erleben—das Geschenk der Gegenwart.
NEUES HÖREN: DIE IDEE (von Barbara Mittler )
"Nur wenn es seine Erscheinungsformen wandeln darf, wächst ein Kunstwerk mit den Zeiten weiter, bleibt es ein Stück gesellschaftlichen Diskurses." (Martin Geck, zur Neufassung der Matthäuspassion bei ihrer Wiederentdeckung durch Felix Mendelssohn Bartholdy)
Die Junge Kantorei hat eine lange Tradition des Wiederentdeckens von vergessenen oder vergessen gemachten Musiken. Bei ihrem Gründungsleiter Joachim C. Martini hieß das "Auf der Suche nach dem verlorenen Klang". Mit der Konzeption von "Neues Hören" wird dieser Ansatz von Jonathan Hofmann kongenial weitergesponnen: Wieder geht es darum, Musiken für die Gegenwart neu zu entdecken, aber am Anfang stehen hier nicht unbekannte sondern, im Gegenteil, eher schon allzu bekannte Werke—die Johannespassion, der Messias, die Matthäuspassion, etc.: lndem die Musiken dieser "Klassiker" mit neuen Texten, neuen Bildern, neuen Raumerfahrungen konfrontiert werden, werden etablierte Hörerfahrungen herausgefordert, nicht nur zur einfachen Aneignung, sondern zum Anstoß: lndem der Zuhörer das Sich-einer-neuen-Erfahrung-Aussetzen akzeptiert, ist er in der Lage, sich einer neuen und offenen Auseinandersetzung mit dem, was allzu bekannt nur zu sein scheint, zu stellen. Die jeweils neu vorgeschlagene Interpretation denkt eine bestimmte Partitur auf eine bisher noch nicht dagewesene, individuelle Weise weiter und schafft damit etwas Neues, das dem Verständnis des Werkes aufhilft, indem es eingeschliffene Vorstellungen vom Sinn und Klang eines solchen Werkes herausfordert. Die Konzertreihe "Neues Hören" erlaubt es so, in und mit diesen eben nur scheinbar wohlbekannten Kompositionen völlig unerwartete Dimensionen und Denkräume aufzutun und damit die jeweilige Musik, so alt sie auch sein mag, immer wieder und ganz aktuell als Neue Musik, als Musik der Gegenwart und als Beitrag zu den Kulturdebatten des 21. Jahrhunderts, erleben zu können. Jonathan Hofmann reiht sich so in eine wichtige Tradition der Wiederentdeckungen barocker Oratorientraditionen ein, die mit wichtigen Namen wie Mendelssohn einen Anfang nimmt und der sich die Junge Kantorei seit ihren Anfängen verpflichtet sieht.
VANITAS 21: DAS KÜNSTLERISCHE KONZEPT
Ein Chor und die Pandemie (von Jonathan Hofmann)
Im März 2020, als alle begannen, sich auf eine Arbeit in der Pandemie einzurichten, hatte sich niemand denken können, dass wir hier über mehr als zwölf Monate sprechen würden. Nachdem die Kantorei für das Jahr 2020 mit dem Projekt Patchwork@distance einen guten Weg gegangen war, stellte sich aber schon im November die Frage nach dem Jahr nach der ersten großen Phase der Corona-Pandemie. Positiv auf eine allmähliche Öffnung eingestellt und dennoch skeptisch aufgrund der Erfahrungen mit einer sich ständig veränderten Lage, war ein Impuls von Silke Leopold mehr als willkommen, geradezu ein Geschenk. Mich persönlich hat vor allem der Blick auf Claudio Monteverdi inspiriert und beeindruckt. Obwohl heute selbst von einer Epidemie betroffen, wird deutlich, wie gut es uns selbst im Vergleich zu Monteverdis Erleben der Pest-Epidemie geht. Wie sehr wir geschützt sind, wie enorm der medizinische Fortschritt ist, und in welch komfortablen Lebensumständen wir leben dürfen.
Diese Anregungen und Gedanken führen zu einem Konzertkonzept auf der Basis der Musik Monteverdis. Wenn man Monteverdis Sammlung Scherzi Musicali hört – veröffentlicht nach der schrecklichen Pestwelle um 1630 – kann man nur von einem ungeheuren Willen zu leben ausgehen; von einer Hingabe an das Leben. Was uns mit dem Leben von 1630 verbindet, ist die Erkenntnis, dass die aktuellen Bedrohungen unseres Lebens nicht mehr nur in den großen sichtbaren Katastrophen liegen, sondern auch in kleinsten, unsichtbaren und unfassbaren Dingen. Die Beispiele reichen von Mikroorganismen bis hin zu einem schleichenden, kaum spürbaren und doch ungeheuer bedrohlichen Klimawandel.
Die selva morale e spirituale bieten zum einen eine Sammlung, die eng mit diesem thematischen Kontext verknüpft ist, zum anderen eine variantenreiche und stilistisch breite Zusammenstellung der concertato- und da cappella-Musik Monteverdis. Wir finden dort neben italienischen Vanitas-Madrigalen und virtuoser konzertanter Musik auch geistliche lateinische Kirchenmusik.
In den Mittelpunkt unserer Konzerte stellen wir die da cappella-Messe aus dem ersten Teil dieser Sammlung und zusätzlich den beeindruckenden Satz Gloria a 7. Die Sätze werden mit einer Dankmesse anlässlich des Festes Mariä Opferung (1631) nach der großen Pestepidemie 1630/31 in Venedig in Zusammenhang gebracht. Welch ein passender historischer Anlass für eine Aufführung im Jahr 2021! Die Messe markierte einen Höhepunkt nach der Pest-Epidemie und ist eine Feier des Lebens: „Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen.“ Umrahmt werden die Sätze der Messe von weiterer Kirchenmusik, vor allem aber von den italienischen Madrigali spirituali und Sätzen aus den Scherzi Musicali.
Die Musik des Projekts soll Zukunft, Vergangenheit und Gegenwart widerspiegeln. Daher wird das Konzert die Kompositionen Monteverdis mit avantgardistischer Improvisation verbinden, und die historische Aufführungspraxis mit gegenwartsbezogener multimedialer Videoinstallation. Das Konzert wird räumliche und zeitliche Dimensionen einbeziehen – ganz im Sinne unserer Konzertreihe Neues Hören. Das Ensemble Dell/Lillinger/Westergaard – ein uns bereits bekanntes internationales Ensemble – und ein Vokalsextett renommierter Sänger werden mit der Jungen Kantorei unseren Blick auf die Vergänglichkeit des Lebens mit bejahender und hoffnungsvoller Musik deuten.
Nach mehr als einem Jahr digitalen Proben, Konzepten und großer Sorge um meine Arbeit als Chorleiter kann ich den erhofften, einst so selbstverständlichen Zustand der Präsenz kaum in Worte fassen: „Ein Geschenk – The Present“ trifft es auf den Punkt.